Bericht über die Europäische ESSTS Konferenz in Athen 2025

Die ESSTS (European Society for the Study of Tourette Syndrome) ist eine wissenschaftliche Gesellschaft, die sich mit dem Thema Tourette Syndrom und anderen Tic-Störungen beschäftigt. Die jährliche Konferenz dient dazu, Forschende, Ärzt*innen, Therapeut*innen und Betroffene (meist vertreten durch Selbsthilfeorganisationen) zusammenzubringen — zum Austausch von Forschung, Therapieansätzen und Erfahrungen.
In 2025 fand diese Konferenz vom 21. bis 23. Mai in Athen statt, im Eugenides Foundation im Stadtteil Faliro. Sie war als hybride Veranstaltung geplant: sowohl vor Ort als auch virtuell (online) konnte man teilnehmen, sodass es für möglichst viele Menschen weltweit zugänglich war.
Aber warum gibt es diese Konferenz überhaupt jedes Jahr und warum sind wir als Selbsthilfeorganisation dabei?
Dafür gibt es mehrere Gründe:
Tic-Störungen (wie Tourette) sind komplex: Es geht nicht nur um Tics, sondern oft auch um Begleiterkrankungen (z. B. ADHS, Zwangsstörungen). Die Konferenz stärkt das Wissen und die Vernetzung.
Durch solche Konferenzen werden neue Forschungsergebnisse publik gemacht — das hilft, Therapien und sonstige Unterstützungsangebote zu verbessern.
Auch der Austausch mit Betroffenen und deren Vertretungen schafft Verständnis und neue Perspektiven. Beispielsweise konnten wir die in 2026 erscheinenden Impulsarmbänder der Firma Neupulse testen.

Außerdem hatte der internationale Dachverband der Selbsthilfeorganisationen TTAG (Tics and Tourette across the Globe) – gegründet und geleitet durch unsere ehemalige Vorsitzende Michele Dunlap – eine eigene Veranstaltung vor Ort. In einem 4-stündigen Workshop wurde ein intensiver Austausch zwischen den Selbsthilfeorganisationen verschiedener Länder ermöglicht. Es gab auch etwas zu feiern: in diesem Jahr wurde in Griechenland eine Selbsthilfeorganisation gegründet – kaum vorstellbar, dass es sowas dort noch nicht gab!

Des Weiteren konnten unsere Vorsitzende Rachel Wittschier und Dr. Katharina Alexandridis ihre Forschungsergebnisse zu unserem beliebten Pferdegestützten Training vorstellen.
Das dort präsentierte, wissenschaftliche Poster haben wir für die Mitgliederzeitschrift übersetzt und im Folgenden vereinfacht niedergeschrieben:
Wirkung eines pferdegestützten Feriencamps auf Kinder und Jugendliche mit Tourette-Syndrom
Hintergrund:
Ferienfreizeiten können die psychische Gesundheit von Kindern verbessern. Bei Kindern mit Tourette-Syndrom gibt es die Sorge, dass sich ihre Tics verschlimmern, wenn sie mit anderen Betroffenen zusammen sind. Andererseits ist bekannt, dass der Kontakt mit Tieren – besonders mit Pferden – die Symptome lindern kann.
Deshalb organisiert die Tourette-Gesellschaft Deutschland jedes Jahr eine Ferienwoche mit Pferden für betroffene Kinder und ihre Familien. Viele Eltern und Kinder haben Angst, dass die Tics durch den Kontakt mit anderen schlimmer werden. Pferde können jedoch helfen, sich zu entspannen und leichter mit anderen in Kontakt zu kommen.
Ziel der Studie:
Untersucht wurde, ob sich die Tics durch die Ferienwoche mit Pferden und anderen Betroffenen verbessern oder verschlechtern.
Methode:
An der Studie nahmen 11 Kinder und Jugendliche mit Tourette-Syndrom oder Tic-Störungen teil (7 Jungen, 4 Mädchen, Durchschnittsalter: 12 Jahre). Sie verbrachten fünf Tage in einer Ferienunterkunft zusammen mit ihren Eltern. Während dieser Zeit nahmen sie an einem pferdegestützten Programm teil.
Die Eltern füllten vor der Woche einen Fragebogen (YGTSS) zur Schwere der Tics aus. Direkt nach der Woche wurde der Fragebogen erneut ausgefüllt, und ein weiteres Mal nach fünf Wochen. Die Yale Global Tic Severity Scale (YGTSS) ist ein Fragebogen, mit dem Wissenschaftler*innen messen, wie stark Tics bei einer Person sind. Die Skala hilft, die Schwere der Tics einzuschätzen.
Sie schaut sich dabei verschiedene Dinge an:
1. Anzahl der Tics – Wie viele verschiedene Tics hat die Person?
2. Häufigkeit – Wie oft treten sie auf?
3. Dauer – Wie lange dauern die Tics an?
4. Intensität – Wie stark oder auffällig sind sie?
5. Beeinträchtigung – Wie sehr stören die Tics den Alltag (z. B. Schule, Freunde, Freizeit)?
Für motorische Tics (Bewegungs-Tics) und vokale Tics (Geräusch-Tics) wird jeweils eine Punktzahl vergeben (0–25 Punkte). Dann wird noch bewertet, wie sehr die Tics das Leben beeinträchtigen (0–50 Punkte). Am Ende ergibt sich eine Gesamtpunktzahl von 0 bis 100. Je höher die Zahl, desto stärker sind die Tics.
Mit der YGTSS kann man herausfinden, wie stark Tics im Moment sind, Veränderungen über die Zeit beobachten (z. B. ob eine Therapie hilft) und Behandlungen besser planen.
Ergebnisse und Fazit:
Nach der Ferienwoche waren die Tics insgesamt weniger belastend (statistisch signifikante Verbesserung). Dabei ging es nicht darum, dass die Tics selbst (motorisch oder vokal) stark zurückgingen, sondern dass die Kinder sich durch ihre Tics weniger beeinträchtigt fühlten (Belastungswert sank im Schnitt von 26 auf 20 Punkte).
Fünf Wochen später waren die Verbesserungen nicht mehr statistisch deutlich sichtbar.
Insgesamt zeigt die Studie: Die Angst, dass die Tics durch den Kontakt mit anderen schlimmer werden, ist unbegründet. Im Gegenteil – der Austausch mit anderen Familien und der Umgang mit Pferden kann den Kindern helfen, besser mit ihrer Erkrankung umzugehen.

Zum Schluss möchte ich Dr. Katharina Alexandridis, die das erste Mal an der Konferenz teilgenommen hat noch folgende Gedanken teilen:
„Die Teilnahme am ESSTS Kongress war für mich sowohl menschlich als auch fachlich ein wunderschönes bereicherndes Erlebnis. Seit vielen Jahren interessiere ich mich als Bewegungswissenschaftlerin und Bewegungstherapeutin in Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatik für das komplexe Bild der Tic- und Tourette Störungen und habe erste wissenschaftliche Arbeiten in Bereich der pferdegestützten Bewegungstherapie bei Tourette initiiert und durchgeführt.
Den ESSTS Kongress habe ich als eine große multidisziplinäre Zusammenkunft mit regem wissenschaftlichem Austausch und einem wunderbaren Rahmenprogramm erlebt. Am ersten Tag wurde mir in der TTAG Veranstaltung die Bedeutung der Selbsthilfeorganisationen noch einmal bewusster und als griechisch sprechende Person konnte ich erste Kontakte zur Selbsthilfeszene Griechenlands knüpfen. Den wissenschaftlichen Austausch fand ich spannend und anregend. Mir ist eindrücklich in Erinnerung geblieben, dass eine Medikation mit Neuroleptika nicht die Lösung sein kann und wie wichtig die verhaltenstherapeutischen Behandlungsformen, Habit Reversal Training (HRT) und Exposure and Response Prevention (ERPT) sind. Dass der Versuch, die Effekte der pharmakologischen Behandlung mit denen der Verhaltenstherapie zu vergleichen, in einer großangelegten holländischen Studie daran scheiterte, dass für die Versuchsgruppe mit einer reinen Medikationsbehandlung keine Studienteilnehmer*innen gefunden wurden, spricht hier für sich. Umso bedeutsamer schienen mir die Präsentationen zu Gemlapodect (NOE-105), – einem Wirkstoff, der als mögliche Behandlung für Tourette-Syndrom erforscht wird. Die Interdisziplinarität bezog sich über die Zusammenarbeit von Mediziner*innen und Psycholog*innen hinaus. Ich hatte die Möglichkeit mich mit Vertreter*innen der Pharmaindustrie, Medizintechnik, Ergo-/Bewegungstherapie und dem Fundraising zu vernetzen. Beeindruckt haben mich die Diskussionsbeiträge von Selbstbetroffenen, in denen entspannt darauf hingewiesen wurde, dass ein glückliches erfolgreiches Leben selbstverständlich auch mit Tourette möglich ist. In diesem Zusammenhang und an anderen Stellen wurde wiederholt auf die Bedeutung des gesellschaftlichen Verständnisses und der Akzeptanz hingewiesen. Die besten Fachgespräche hatte ich beim köstlichen traditionellen Essen, welches ich in bester Gesellschaft vor dem Eugenides Kongresszentrum in der Sonne und bei einem Empfang mit beeindruckender Meereskulisse genießen durfte. Ich freue mich jetzt schon auf eine mögliche Teilnahme 2026 in Ljubljana!“