Unsere 1. Vorsitzende Rachel Wittschier war zum Interview bei NTV geladen, welches jetzt unter dem Titel „Leben mit dem Tourette-Syndrom: Rufen obszöner Begriffe „ist nur ganz selten“ erschienen ist:
„Viele Menschen verbinden mit dem Tourette-Syndrom das unkontrollierte Ausrufen von Schimpfwörtern. Warum das kaum einen der Betroffenen richtig darstellt, wie es sich mit Tics im Alltag lebt und was Videos des Sängers Lewis Capaldi bewirken können, erklärt Rachel Wittschier, 1. Vorsitzende der Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V., im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Was genau ist das Tourette Syndrom?
Rachel Wittschier: Das Tourette-Syndrom ist eine neuro-psychiatrische Erkrankung und tritt meistens schon im Kindes- und Jugendalter auf. In den meisten Fällen verschwindet das dann komplett. In schweren Fällen ist es so, dass die Tics, also das Symptom dieses Syndroms, bei der Hirnreifung in der Pubertät nicht korrigiert werden. Dann haben auch erwachsene Personen weiter Tics.
Was für Arten von Tics gibt es?
Das sind entweder motorische oder vokale Tics, die plötzlich und auch wiederholt auftreten können, ohne dass die Betroffenen das bewusst machen. Und sie können einfach und komplex sein. Ein Schulterzucken wäre zum Beispiel ein einfacher motorischer Tic, wohingegen auf der Stelle hüpfen oder springen schon komplex ist, weil mehrere Muskelgruppen beteiligt sind. Auch bei vokalen oder phonischen Tics gibt es einfachere Formen wie Schnalzen oder Schniefen. Komplexer ist das Wiederholen von Wörtern, von letzten Wörtern oder Sätzen eines Gesprächspartners oder einer Gesprächspartnerin oder auch das Ausrufen obszöner Begriffe.
Das unkontrollierte Rufen von obszönen Ausdrücken ist ja das Symptom, das die meisten Menschen mit dem Tourette-Syndrom verbinden.
Ja, das ist leider so. Aber das ist nur ganz, ganz selten der Fall. Nur ungefähr ein Prozent der Bevölkerung haben Tic-Störungen, im Kinder- und Jugendalter ist der Anteil höher. Da können bis zu fünf Prozent betroffen sein. Bei den Erwachsenen haben aber nur die allerwenigsten diese sehr ausgeprägte spezielle Form des Tourette, die Koprolalie. Die meisten haben einfache motorische und/oder vokale Tics. Um von Tourette-Syndrom zu sprechen, müssen ja auch verschiedene Aspekte zutreffen.
Welche Aspekte sind das?
Tourette-Syndrom bedeutet, dass die Menschen motorische UND vokale Tics haben. Beide Phänomene müssen vor dem 18. Lebensjahr auftreten und mindestens ein Jahr anhalten. Das sind die Diagnosekriterien.
Wie genau wird das Tourette-Syndrom denn diagnostiziert?
Der Weg bis zur Diagnose ist leider oft sehr mühselig, bis man an jemanden kommt, der das gut kennt und fachgerecht diagnostizieren kann. Weil es nicht so häufig ist, hat nicht jeder Arzt oder jede Ärztin so etwas schon mal gesehen. Meistens wird es von einem Neurologen/einer Neurologin oder einem/r Neuropsychiater*in diagnostiziert und es gibt einige spezialisierte Kliniken in Deutschland. Die Diagnose wird klinisch gestellt, das bedeutet, dass das medizinische Personal durch das Betrachten und Erfragen der Symptome auf die Diagnose schließen.
Es gibt also keine Diagnosemethoden wie zum Bespiel Blutwerte oder Hirnscans?
Nein, weil die Ursachen noch nicht gänzlich geklärt sind. Es gibt ein paar genetische und neurologische Faktoren. Untersuchungen zeigen, dass es Fehlfunktionen im Regelkreis des Gehirns gibt, bei denen die Basalganglien, die auch mit den Botenstoffen zu tun haben, betroffen sind. Aber man weiß nicht ganz genau, woher das kommt und warum es auftritt. Deswegen sind bildgebende Verfahren noch nicht der Goldstandard in der Diagnose, sondern es braucht jemanden, der beobachtet und die richtigen Fragen stellt.
Ist eine Bevölkerungsgruppe besonders häufig betroffen?
Das männliche Geschlecht und Personen, die andere Erkrankungen haben, wie zum Beispiel Zwangsstörungen, sind häufiger betroffen. Aber es gibt weitere Untersuchungen, ob andere Faktoren wie Herkunft oder sozialer Status auch eine Rolle spielen. Das Tourette-Syndrom gibt es auf jeden Fall rund um den Globus, das ist kein westliches Phänomen.
Gibt es Behandlungsmöglichkeiten?
Das Tourette-Syndrom ist nicht heilbar, aber es gibt Behandlungsmöglichkeiten. Allerdings muss nicht jede Person, die eine Tic-Störung hat, zwangsläufig behandelt werden, sondern es geht darum, wie gut die Person und das Umfeld damit leben können. Wenn ein Leidensdruck da ist, kann man das natürlich behandeln. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, zum einen medikamentöse Therapien, um den Hirnstoffwechsel positiv zu beeinflussen, damit die Tics weniger häufig auftreten. Auch Komorbiditäten, also Begleiterkrankungen, können mitbehandelt werden. Viele Betroffene haben Ängste, Zwangsstörungen, Depressionen oder ähnliches. Ansonsten werden Personen psychotherapeutisch unterstützt. Da ist vor allem die Verhaltenstherapie die Therapie der ersten Wahl. Beim Habit-Reversal-Training beispielsweise geht es darum, den Personen ein alternatives Verhalten an die Hand zu geben und mit Entspannungstechniken oder dem Erlernen einer Gegenbewegung die Tics nicht oder nicht so stark auszuführen.
Was sind klassische Auslöser für Tics?
Ein Auslöser ist Stress, wenn Personen einen Vortrag halten müssen, zum Beispiel Schüler*innen vor der Klasse, oder wenn sie in Situationen mit vielen anderen Menschen sind, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln. Das sind Situationen, in denen Personen meistens häufiger Tics zeigen. Aber das ist individuell sehr unterschiedlich. Manchen Menschen hilft es zum Beispiel Sport zu machen, bei manchen löst der körperliche Stress von der sportlichen Aktivität aber auch Tics aus.
Wie gehen Betroffene im Alltag mit ihren Tics um?
Wir vom Verein betonen immer gerne, dass das Tourette-Syndrom keine psychische Erkrankung oder Beeinträchtigung ist, sondern eine zusätzliche Herausforderung, mit der Menschen leben. Aber das hat nichts damit zu tun, dass man mit Betroffenen nicht spaßige Dinge erleben, zusammenarbeiten, sich unterhalten oder Beziehungen eingehen kann. Es gibt Personen, die mit Tourette ein ganz normales Leben führen, arbeiten gehen, Freunde treffen. Es gibt aber auch andere, die aufgrund ihrer Belastung und ihrer Einschränkung nicht arbeiten gehen und eher zurückgezogen leben.
Wie verhält man sich Ihrer Erfahrung nach am besten, wenn man eine Person trifft, die das Tourette-Syndrom hat?
Niemand möchte angestarrt werden oder dass schlimmstenfalls die Kamera draufgehalten wird. Aber ich glaube, da spreche ich für alle Personen unabhängig davon, ob sie mit einer Krankheit, Beeinträchtigung oder Einschränkung leben. Den meisten Betroffenen ist es lieber, wenn man sie auf ihre Tics anspricht. Wenn man sich aber mit jemanden unterhält oder merkt, die andere Person hat motorische oder vokale Tics, habe ich die Erfahrung gemacht, dass man am besten einfach so wie vorher weiterkommuniziert und die Tics ignoriert. Wenn man jedoch merkt, dass eine Person sich offensichtlich in einer unangenehmen Situation befindet, kann man sie auch ansprechen und die Situation damit vielleicht auflösen. Wir als Verein setzen uns für Akzeptanz und Toleranz ein. Dafür, dass Menschen aufeinander zugehen und nicht voneinander weggehen, wenn sie denken, der oder die ist ja nicht so wie ich.
Der schottische Sänger Lewis Capaldi hat das Tourette-Syndrom und eines seiner Videos ist viral gegangen. Es zeigt den Moment eines Konzertes, als Capaldi nicht weitersingen kann und das Publikum für ihn den Song zu Ende singt. Wie verändern solche Videos die öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit Tourette?
Das ist super, weil so viele Leute damit konfrontiert werden. Lewis Capaldi hat eine Form von Tic-Störung, die nicht beinhaltet, obszöne Begriffe auszurufen. Auf dem Video ist sehr schön zu erkennen, dass er mal ein Schulterzucken, mal ein Kopfwerfen macht oder ein Grimassieren im Gesicht zeigt. Das ist etwas, was die meisten Menschen mit Tourette betrifft. Und es ist natürlich auch super, dass von einer Person des öffentlichen Lebens anderen Betroffenen gezeigt wird: Nur weil du mit dieser Herausforderung lebst, heißt das nicht, dass du nicht alles werden kannst oder alles machen kannst in deinem Leben, was du dir erträumst! Und es ist schön zu sehen, dass die Leute ihn so feiern und unterstützen und dann so rührende Szenen entstehen.
In den sozialen Medien gibt es etliche Menschen, die ihr Leben mit meist ausgeprägteren Formen von Tourette zeigen. Inwieweit können damit Vorurteile abgebaut werden oder kann das auch kontraproduktiv sein?
Das kann mitunter auch sehr kontraproduktiv sein. Dahingehend dass Menschen, wenn sie Tourette-Syndrom hören, alle ein bestimmtes Bild haben, das den Großteil der Betroffenen gar nicht beschreiben würde oder gar richtig abbildet. Aber nichtsdestotrotz ist so etwas wichtig und wir als Verein unterstützen das auch. Wir haben viele betroffene Person, die für uns ehrenamtlich tätig sind, die gute Aufklärungsarbeit im Internet leisten. Es ist wichtig, ein realistisches Bild von Tourette abzugeben.
Mit Rachel Wittschier sprach Katja Sembritzki“
Solchen Anfragen gehen wir als Verein für eine realistische Darstellung und unserer Öffentlichkeitsarbeit gerne nach!
Den ganzen Text könnt ihr auch hier nachlesen bzw. über folgenden Link teilen:
https://www.n-tv.de/leben/Rufen-obszoener-Begriffe-ist-nur-ganz-selten-article24340272.html